Ausgeträumt – China liebt das Netz. Die Partei liebt es erst recht.

 

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Essay
von Kai Strittmatter

Artikel aus der Süddeutschen Zeitung: Gesellschaft, 25.10.2014

Das Internet könne Diktaturen überwinden, heißt es immer. In China läuft die Sache gerade ganz anders: Da hat die Partei längst die Macht im Netz an sich gerissen.

Die Ermächtigung der Ohnmächtigen, das ist ein Versprechen, das alle neuen Medien in sich tragen. Sie sind immer auch eine Bedrohung für den Status quo. Auch das Internet war von Anfang an ein Traum. Chinas Versuch, das Netz zu zensieren, frohlockte Bill Clinton, sei ebenso aussichtsreich wie der, „einen Wackelpudding an die Wand zu nageln“. Im Jahr 2000 war das. Die Chinesen lauschten der Prophezeiung, bauten flugs eine neue große Mauer, die Great Firewall, schlugen ein paar Nägel in die Ritzen, und siehe da: Er hing da gut, der Pudding.

Die Propheten der Freiheit lassen sich nicht entmutigen. Unverdrossen froh kommt die Botschaft vom Wettlauf zwischen Hase Zensor und Igel Netzbürger bei Eric Schmidt daher: „Erst versuchen sie, dich zu blockieren, als Zweites zu infiltrieren – und als Drittes gewinnst du.“ Der Google-Chef sagte das im November 2013, er prophezeite die Niederlage der Netzüberwacher weltweit innerhalb eines Jahrzehnts.

Unterfüttern können die Netzoptimisten ihre Zuversicht mit den Geschichten vom Twitter-Aufstand in Tunesien, von der Facebook-Revolution in Ägypten, von der Youtube-Agitation der Maidan-Aktivisten in Kiew. Und jetzt Hongkong: FireChat, Telegram, WeChat, das App-Arsenal der sich clever organisierenden Studenten lehrte den europäischen Zeitungsleser mal wieder ein ganz neues Vokabular der Rebellion. Der Freiheitskampf und sein technologischer Unterbau, das gehört für die Medien mittlerweile oft zusammen.

Erstaunlich nur, dass die Herren in Peking das Netz gar nicht zu fürchten scheinen. 632 Millionen Chinesen nutzen das Internet, die Hälfte in sozialen Netzwerken. Und die Regierung baut die Infrastruktur mit aller Macht aus. Weil es der Wirtschaft nützt und das Land stark macht. Der Hangzhouer Onlinehändler Alibaba macht mehr Umsatz als Amazon und Ebay zusammen. Im April beging das Netz seinen 20. Geburtstag im Land, Parteichef Xi Jinping feiert China als kommende „Cybermacht“, die Nachrichtenagentur Xinhua schwärmte von der „Innovationskraft“ Chinas, der man ein „einzigartiges Internetmanagement“ verdanke: Kommerz und Kontrolle aufs fruchtbarste vereint.

China liebt das Netz. Die Partei liebt es erst recht.

Das Blinzeln
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Noch vor Kurzem sah es so aus, als habe sich ein Fenster aufgetan. Vier erstaunliche Jahre lang, von 2009 bis 2013, durften Chinas Netzbürger glauben, das freie Wort sei ihnen in den Schoß gefallen. Schuld hatten die sozialen Medien, allen voran der Mikro-Bloggingdienst Weibo, Chinas Gegenstück zu Twitter. Twitter selbst hatte die Kommunistische Partei (KP) wie auch Facebook sofort verboten; Weibo, die chinesische Kopie, erlaubte sie 2009.

Natürlich durchsetzte sie die Firma mit Zensoren, aber was die Partei zunächst nicht verstand, war das fundamental Neue an den sozialen Netzwerken: Mit einem Mal ließen sich eine Nachricht oder ein Foto vom Handy aus per Knopfdruck in Sekundenschnelle hunderttausend-, millionenfach verbreiten. Ein Zensor, der auch nur zwanzig Minuten brauchte, war zwanzig Minuten zu spät. Erstaunliches geschah. Es fanden nicht nur zuvor unterdrückte Nachrichten – über Smog, über Lebensmittelskandale, über Polizeigewalt – ihren Weg zu Millionen Lesern, es fanden auch Menschen mit ihren Ideen, Gedanken und Sorgen zueinander, die sich zuvor allein geglaubt hatten.

Die Isolierung der Individuen ist zentrales Herrschaftsmittel aller autoritären Systeme, in China brach sie mit einem Mal auf. Der liberale Gesellschaftskritiker und Essayist Murong Xuecun etwa hatte Anfang 2013 sechs Millionen Follower. Die Gesellschaft entdeckte sich selbst, reflektierte über sich. Zum ersten Mal in der Geschichte der Volksrepublik keimte so etwas wie eine bürgerliche Öffentlichkeit. Die Menschen stritten, debattierten, spotteten. Irgendwann begannen sie, in Gruppen zu Hunderten, Tausenden auf Cyberjagd zu gehen, um korrupte Kader zu erlegen. Dutzende Male gelang ihnen das, zum Beispiel beim „Uhrenonkel“, dem sie auf Fotos den Besitz teurer Schweizer Luxusuhren nachwiesen. Die Bürger hatten ihre Macht entdeckt.

Und dann ging alles ganz schnell. Ende 2012 wurde Xi Jinping Parteichef. Im August 2013 gab er den Befehl, „die Kommandohöhen im Internet zurückzuerobern“. Und schon im November meldete ein Vizepropagandaminister Vollzug: „Unser Internet ist wieder sauber.“ Der Spuk war vorbei.

Die Faust
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Zensur funktioniert. Die Partei holte die alten Waffen hervor: Einschüchterung, Zensur, Propaganda. Frisch aufpoliert und geschickt den Zeiten angepasst. Einschüchterung machte den Anfang: Zuerst löschte die Partei die Konten unangenehmer Blogger, Murong Xuecun war der erste. Dann griff sie sich namhafte liberale Meinungsführer heraus, nahm sie fest, stellte sie bloß (wegen „Prostitution“ oder „Wirtschaftsverbrechen“), brach sie in der Haft und stellte sie dann an den Pranger: Im Staatsfernsehen wurden sie als reuige Sünder vorgeführt, dem Publikum zur Abschreckung und Belehrung. Im September 2013 erließ das Oberste Gericht neue Regeln: Wer ein „Gerücht“ verbreitet, das mehr als 500 Mal weitergeleitet oder mehr als 5000 Mal gelesen wird, riskiert bis zu drei Jahre Haft. Als politisch und gesellschaftlich relevantes Medium ist Weibo seither tot. Dort, wo eben noch eine manchmal wilde, oft polemische, im Glücksfall kluge, immer aber lebendige Debatte tobte, herrscht heute Friedhofsruhe.

Zensur funktioniert, das zeigt der Fall Hongkong. Gleich zu Beginn der Proteste sperrte die Zensur das Fotoportal Instagram. Hongkonger Nutzer des populären Nachrichtendienstes WeChat (chinesisch: Weixin) merkten irgendwann, dass ihre Nachrichten die Empfänger in China nie erreichten. Die Hongkonger Anti-Zensur-Webseite „Weiboscope“ meldete, dass am Tag nach der Tränengas-Attacke der Polizei eine Rekordzahl von Nachrichten auf Weibo gelöscht und gesperrt wurde, mehr als an jedem anderen Tag in diesem Jahr. Die Nachrichtensperre ist bis heute effektiv. Kaum ein Chinese weiß, was in Hongkong vor sich geht.

Der Pekinger Bao Pu ist heute Verleger in Hongkong, er wuchs einst auf im Herzen der Macht als Kind eines hohen Parteifunktionärs. Er kennt die KP, er kennt die neuen Technologien. Genau deshalb, sagt er, sei er Pessimist. Technologien, glaubt Bao Pu, dienten immer dem Lager mit den größeren Ressourcen. „Das Internet dient also wahrscheinlich der KP mehr als ihren Gegnern“, sagt er. Chinas Regierung gibt seit einigen Jahren mehr aus für die innere Sicherheit als für die Landesverteidigung. Die allmächtige Stasi, sagt Bao Pu, müsse nur Weibo und Weixin mitlesen: „Dann wissen sie schon, wen sie als Nächstes verhaften müssen.“

Weixin hat Weibo mittlerweile überholt an Popularität. Aber Weixin ist im Kern etwas anderes: Es ist ein Messaging-Dienst, bei dem sich die Leute zu kleinen Gruppen zusammenschließen, um zu diskutieren. Die Abkehr von Weibo zu Weixin ist auch ein Rückzug ins Halbprivate. Aber das Gefühl relativer Sicherheit, das viele dort haben, trügt: Die Pekinger, die vor drei Wochen im Künstlerviertel Songzhuang verhaftet wurden, weil sie an einer Dichterlesung zur Unterstützung Hongkongs hatten teilnehmen wollen, hatten sich zuvor über Weixin verabredet. Die Stasi las mit.

Das Wort
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Die Macht der KP, so sah das Mao Zedong, stützte sich von Anfang an auf zwei Dinge: „den Lauf der Gewehre und die Stifte der Schreiber“. Das Aussperren von Information reicht nicht, man muss seine eigene Erzählung dagegensetzen. Die Propaganda ist heute klüger und raffinierter geworden. Ja, heute wie damals gibt es die Hetzer mit dem Schaum vorm Mund, wenn etwa die Global Times den Demonstranten nachruft, sie hinterließen „einen Gestank für 10 000 Jahre“. Aber viel effektiver sind die anderen Stücke, die professionell gemachten Infografiken, die daherkommen wie clevere PR, die anonymen Blogs, die sich tarnen als Diskussionsbeiträge aus dem besorgten Volk, und die den Landsleuten die Lage so erklären: Hongkong versinkt im Chaos. Die Demonstranten wollen Hongkong von China abspalten. Es sind verwöhnte Kinder, denen es nur um wirtschaftlichen Vorteil geht. Hinter ihnen stehen dunkle ausländische Mächte, die nicht wollen, dass China stark wird.

Das Pekinger Webportal Sina schaffte es, am Dienstag zwei Stunden lang über die Gespräche zwischen Regierung und Studenten in einem „Live-Blog“ zu berichten, ohne dabei ein einziges Mal die Studenten zu zitieren. In Chinas Nachrichten und in Internet-Clips sieht man weinende Frauen, die den Niedergang ihrer Stadt beklagen und enthüllen, dass die Demonstranten alle gekauft sind. Zufällig sprechen die Interviewten meist nicht das in Hongkong übliche Kantonesisch, sondern Hochchinesisch mit Festlandakzent.

Das Bemerkenswerte: Längst hat Chinas Propaganda die Begriffe des Westens gekapert. Die Volkszeitung etwa schreibt tatsächlich, das Problem mit den Demonstranten in Hongkong sei ihre „antidemokratische“ Haltung. Diese „Feindschaft gegen die Demokratie“ habe ihnen nämlich die Kolonialherrschaft der Briten eingepflanzt. Nun sei es dringend nötig, den „Rechtsstaat“ in der Stadt wiederherzustellen, sprich: den Demonstrationen den Garaus zu machen. Gleichzeitig blockiert man im Netz alle Worte, derer sich die Gegner bedienen: Über „Regenschirme“ kann man auf Weibo heute nicht sprechen. Ja, die Nutzer sind kreativ, und sie freuen sich diebisch, wenn sie mit „Perle des Orients“ durchkommen, wo „Hongkong“ blockiert ist – aber solche kleinen Triumphe können Peking egal sein: Man hat ihnen die für ihren Diskurs zentrale Sprache genommen, und damit jede Aussicht auf nennenswerte Wirkung. In diesem Wettlauf siegt der Hase, nicht der Igel.

Der Untertan
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Dem Gegner die zentralen Begriffe zu stehlen und sie mit der gegenteiligen Bedeutung zu füllen ist ein genialer Schachzug. Man stellt die Kompassnadel einfach mal auf Süden. Das Resultat ist die totale Verwirrung. „Wenn aber alle verwirrt sind, dann verkommen Werte zu leeren Hülsen“, sagt Yang Lian, ein in London und Peking lebender Dichter. „Und was bleibt, sind Zynismus und Egoismus.“

Das Erstaunliche ist ja nicht die Inszenierung der Propaganda, sondern wie brav das Volk mitspielt. Wenn in den Kommentaren im Netz die Hongkonger als vaterlandslose Gesellen kritisiert werden, dann ist das nicht nur das gewaltige Heer der „Wumao“, der „50 Cent“-Trolle, die im Auftrag der KP nationalistische Tiraden absetzen. Man hört das Echo der Propaganda auch im täglichen Gespräch in Pekings Straßen. „Fast keiner meiner Freunde weiß, was wirklich los ist in Hongkong“, sagt der Essayist Murong Xuecun. „Und von denen, die es wissen, beschweren sich 70 Prozent über die Hongkonger. Sie können sich nicht vorstellen, dass jemand für Ideale eintritt. Weil in China selbst aller Idealismus, alle Prinzipien, alle Moral ausgelöscht wurden, weil jeder hier nur für die eigenen Interessen und für den eigenen Profit arbeitet, deshalb unterstellt er auch allen anderen nur niedere Motive.“ Es gibt dafür in China einen Spruch: Mit den Augen eines Schweines auf Menschen schauen.

Das System nationalistisch-militaristischer Erziehung, mit dem die Partei im Gefolge des Massakers vom Tiananmen-Platz das Land überzogen hat, zeigt Wirkung. „Die in den Achtzigern und danach Geborenen sind rettungslos verloren. Die Gehirnwäsche beginnt im Kindergarten“, sagt ein 50-jähriger Maler aus Songzhuang, dessen Freunde zu den wegen Hongkong Verhafteten zählen. David, ein 28-jähriger Lehrer an einer Eliteschule in Peking, erzählt von seinen 17- und 18-jährigen Schülern: „Technisch sind sie super versiert. Sie benutzen auch viel mehr als wir VPN und andere Technologien, mit denen sie die Zensur überwinden können. Sie nutzen Facebook und Youtube – aber nur für Entertainment und um ihren Stars zu folgen. Ich gebe ihnen manchmal Bücher zu lesen, gute Artikel aus der New York Times. Aber obwohl ich nur zehn Jahre älter bin, verstehen sie mich nicht einmal mehr.“ Der Kontext, in dem sie leben, sei ein völlig anderer: „Die Manipulation durch die Erziehung und Propaganda der Partei ist perfekt: Sie konsumieren einfach und ignorieren alles andere. Sie ignorieren auch die Realität, es wird ihnen leicht gemacht.“

Das chinesische Modell, die neoautoritäre Inbesitznahme des Netzes – im Moment funktioniert das prima. Und es strahlt aus: Andere nehmen sich ein Vorbild an Peking, dem Vorreiter in Sachen raffinierter Netzmanipulation. Vietnam, Russland, Saudi-Arabien. Einst hieß es, der Kapitalismus werde China die Freiheit bringen. Er hat es nicht getan. Dann hieß es, das Internet werde Chinas Parteiherrschaft unterwandern. Im Moment sieht es eher so aus, als unterwandere China den Kapitalismus und das Netz dazu.

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